1992 St. Petersburg – Moskau

1992 St. Petersburg – Moskau   1.-8.11.1992

Russland lag hinter dem eisernen Vorhang. Fremd, mystisch, gefährlich, aber auch romantisch durch «Doktor Schiwago». Die Landschaft zog mich magisch an. Doch Individualreisen schienen schwierig oder gar unmöglich. Eine Städtereise soll man der Beginn sein, einen Blick in dieses uns so fremde Land zu werfen. Aber als Gruppenreise? Doch unter diesen Umständen wagten wir es. Die erste Privatreise mit Koffer! Abendkleidung für jeden Tag. Was wird auf mich zukommen?

St. Petersburg und Moska - Travel program
Reiseprogramm

Bereits der Flug in der Tupolev mit Glasnase liess das Mysterium erahnen. Nur eine Handvoll Passagiere waren an Bord. Die Stewardess legte auf das Tischchen eine weisse Stoffserviette, darauf einen Apfel als Vorspeise. Beilage der Hauptspeise war Reis, ziemlich schwarzer.

Im Hotel liessen wir uns erst mal in der Bar nieder. Kaffee und ein Bier kosteten 8$. Als wir später hörten, dass unsere Reiseleiterin Raissa im Monat 18$ verdiente, mieden wir Dollar-Shops. Der Wert des Rubels sank von Tag zu Tag.

Bald war unsere Gruppe beisammen: Sechs reiseerfahrene Schweizer! Ja das war toll! Ein Chauffeur mit Bus stand uns zur Verfügung, wir waren seine ersten Kunden. Sogar ein Kameramann begleitete uns. Sein Video führte er uns vor der Weiterreise im Hotel vor. Natürlich kauften wir eine Kopie – die hatte ich mal jemandem ausgeliehen?

Raissa war eine resolute Dame mittleren Alters. Sie sprach praktisch perfekt Deutsch, obwohl sie Russland nie verlassen hatte. Sie schimpfte über ihren Mann, der an der Uni als Professor arbeitete, aber zu Hause untätig herumhing. Sie als Frau managte zu Hause alles, wie das üblich sei.

Russland begann sich in diesen Monaten dem Westen zu öffnen, doch die Menschen verstanden nicht, was da vor sich ging. So riet uns Raissa dringend davon ab, an Souvenirständen etwas zu kaufen. «Diese Verkäufer stehen nur dort – sie arbeiten nicht!».
Schwer fiel es ihr uns mitzuteilen zu müssen, dass der Eintritt in die Peter-und-Paul-Kathedrale (Grabkapelle mit Marmorsärgen von Kaiser/Zaren) doch nicht vom Reiseveranstalter übernommen werden kann, denn seit wenigen Tagen kostet er 1$ statt wie bis vor kurzem nur wenige Rubel. Ob wir uns das leisten können? Zögerlich sagten wir ja. Wie in allen Museen arbeiteten auch dort ältere Frauen an der Kasse und beaufsichtigten die Räume. Raissa schickte uns vor und ging bezahlen. Nach einiger Zeit beobachteten wir, wie sie mit der Kassendame laut stritt, plötzlich sogar handgreiflich wurde. Völlig ausser sich kam sie später zu uns. Das sei unglaublich! Die Dame wollte ihr keine Quittung geben – so kann diese doch die Dollars einfach einstecken!
Eines Abends wünschten wir ein Privat-Programm und baten unseren Fahrer, in eine Bar zu fahren in seinem Wohnquartier. Wir wollten einen Einblick erhalten, wie Russen leben. Raissa willigte nur ungern ein. So was war nicht vorgesehen. Wir kamen in ein Gebiet mit Plattenbauten. Da gab es eine kleine Bar. Die drei, vier Gäste musterten uns erstaunt. Jemand von unserer Gruppe bestellte die Cognac-Flasche, die im Mauerregal ausgestellt war. Raissa konnte es nicht fassen. Die kostete mindestens einen Monatslohn! Doch dann genoss Sie ihn selig. Cognac habe sie seit 30 Jahren nicht getrunken.
Zum Zirkus begleitete uns Raissa nicht. Wir waren von der Vorstellung total beeindruckt, sassen in der vorderen Reihe. Dennoch blieb uns ein Rätsel, wie die Frau vor unseren Augen aus der Duschkabine verschwinden konnte. Ihre nassen Fussabdrücke waren auf dem Boden sichtbar. Plötzlich entstieg sie einer Kugel, die von der Decke runter schwebte. Wir fragten Raissa, warum sie sich diese tolle Show nicht angesehen habe. Die sei doch ein Witz, der Mann mit der Riesenschlange hatte selber Angst vor dem Tier! Ja, der Unterschied zwischen Show und Realität!
Drei unserer Reisepartner buchten die verlängerte Reise und besuchten erst Kiew. Ein Paar nahm einen Koffer alter Kleider mit, wollte diese auf der Strasse verschenken. Doch seit einigen Tagen gab es ein neues Gesetz: Russen durften auf der Strasse nichts annehmen. Also bauten sie einen Stand auf und verlangten einen symbolischen Preis. Sofort hätte sich eine Menschenschlange gebildet. Westwaren und Marken-Jeans waren heiss begehrt. Ein Gedränge gab es allerdings nicht. Einer nach dem anderen schaute sich die Ware in Ruhe an. Keiner riss dem anderen etwas aus der Hand, drängte vor. Beeindruckend!
Mal assen wir in einem Restaurant der Luxusklasse. Beim Eingang in den Speisesaal sass eine Dame an einem Tischchen und verkaufte Mineralwasser. Das Tischwasser vom Hahn war praktisch ungeniessbar, stark chlorhaltig. Wir waren die einzigen Gäste. Jeder von uns wurde von etwa drei Kellnern verwöhnt. In der Küche standen offensichtlich Spitzenköche, doch der Markt gab wenig her. Wieder fast schwarzen Reis. Auf Tellern türmten sich (grässliche) Würstchen. Tellerweise aufgetischt wurde hingegen Kaviar!
Ein besonderes Erlebnis war der Opernbesuch. Die Menschen kamen in Mäntel gehüllt und schweren Stiefeln an. In Garderoben zogen sie sich um, die Abendkleider glitzerten hervor. Bei näherem Hinschauen waren sie allerdings nicht wirklich glamourös. In der Pause entdeckten wir einen Raum, der Catwalk war. Im Kreise flanierten die Besucher und präsentieren ihre Roben. Auf Sitzbänken entlang den Wänden bewunderte das Publikum die Kostüme.

 

Moskau

Unsere Reiseführerin war weniger charismatisch als Raissa. Blieben deswegen weniger Erinnerungen? Wir wohnten in einem Hotel, das während der Olympiade den Journalisten als Unterkunft diente.
Am 4. November fand der Russische Marsch statt, eine jährliche Demonstration der rechten Opposition in Russland zu Ehren der nationalen Einheit. An jenem Abend besuchten wir eine Ballettaufführung im Bolschoi-Theater. Beim Verlassen des Gebäudes hörten wir Schüsse. Sicherheitsmänner führten uns in Windeseile zu unserem Bus.
Am letzten Abend genossen wir ein weiteres Ballett im staatlichen Kreml-(Kongress)-Palast. Zuvor konnten wir mehrere Gebäude des Kremls und die Kirche besichtigen.
Mehrmals erschraken wir bei Kirchenbesichtigungen, wenn wir plötzlich vor einem offenen Sarg standen. So wurden hier Tote aufgebahrt.
Natürlich stiegen wir an vielen U-Bahn-Stationen aus. Es sind wohl die schönsten der Welt – Prunkbauten.
Ganz im Gegensatz dazu schockierten uns die in Reihen stehenden Menschen vor den U-Bahn-Stationen, die Waren anboten. Jeder meist nur einen Artikel, oft eine Flasche Hochprozentiges.
Der Feinkostladen Jelissejew in einem Prachtbau löste gemischte Gefühle aus. Der Dollar-Shop erweckte keine Kauflust.

Russia, red square in Moskau
Auf dem roten Platz in Moskau

Die Eindrücke auf dieser Reise musste ich jeden Abend erst verarbeiten. Es waren intensive Tage!

Dazu aus Wikipedia:
Russische Föderation (seit 1992)
Nach dem Zerfall der Sowjetunion … gründete Russland zusammen mit Weißrussland und der Ukraine die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), …1992 ließ der russische Präsident Boris Jelzin einen Föderationsvertrag unterzeichnen…. Die erste Hälfte der 1990er Jahre war geprägt von der sogenannten “wirtschaftlichen Schocktherapie”, wachsender Unzufriedenheit der russischen Bevölkerung über die unvollendeten Reformen, Rubelsturz von 1994, dem Ausbruch des Ersten Tschetschenienkrieges (1994–1996) und der Niederlage des demokratischen Lagers bei den Dumawahlen im Dezember 1995.

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